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Gesichter, Straßen und Fahrzeuge


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Welche Bedeutung hat das Photographieren im öffentlichen Raum für den Einzelnen? Was interpretieren wir in Photos hinein, wie hat sich unsere Wahrnehmung im Laufe der Zeit verändern? Wie verändert der Wandel von der analogen zur digitalen Photo- und Filmaufnahme unsere Interpretation von Rechten und Gesetzen?

Eine Geschichte über Wahrnehmung, über Technik, Wünsche und Realität — und über einen Zeitraum von fast 30 Jahren.

Episode Eins: Schlendern ist Luxus.

Es ist 1988, es ist Sommer. Vor einigen Monaten habe ich mein Abitur gemacht, bis zum Dienstantritt bei der Bundeswehr sind es noch ein paar Monate. Auf Stundenbasis arbeite ich als Programmierer, aber eigentlich brauche ich kein Geld, ich habe keine besonderen Bedürfnisse und ich werde von meinen Eltern gut umsorgt. Ich bin gerade 19 Jahre alt, ich blicke wehmütig auf meine Schulzeit zurück (ja, in den letzten Jahren bis zum Abitur hat mir die Schule wieder richtig Spaß gemacht), aber ich genieße auch meine aktuelle Freiheit. Ja, es sind Monate des Müßiggangs: Ich schlafe lange aus, ich fahre mit dem Fahrrad kreuz und quer durch das Sauerland. In zwei Stunden schaffe ich es von Dortmund nach Wuppertal. In die Dortmunder Innenstadt brauche ich aber auch schon fast eine halbe Stunde. Ich setze mich auf eine Bank auf dem Westenhellweg (die Fußgängerzone in Dortmund) und schaue den Menschen zu, wie sie bis zum gesetzlichen Ladenschluß um 18:30 Uhr in Hetze ihre Besorgungen erledigen, ich flaniere durch die Stadt, ich genieße den Luxus des Schlenderns.

Am Hauptbahnhof befindet sich eine unterirdische Passage, sie verbindet die U-Bahn-Linien mit einer kleinen unterirdischen Ladenzeile, eine typische Planung der 1980er-Jahre. Ich schlendere durch den Gang, schaue mir die Menschen an, die mir entgegenkommen. Ein Mädchen etwa in meinem Alter kommt mit entgegen, ich denke gerade an gar nichts, ich schaue sie einfach nur an - während ich so daherschlendere. Und
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plötzlich sagt sie mit fröhlicher Stimme "Hallo, Daniel!". Ich erschrecke, ich zucke zusammen, ich bin herausgerissen aus dem gemütlichen Schlendern. In dem Moment, in dem sie das gesagt hat, habe ich sie sofort erkannt. Wir haben uns fast drei Jahre lang im Leistungskurs Mathematik gegenübergesessen (der Kurs saß in U-Form), in jeder Woche sechs Schulstunden lang. Und doch wäre ich jetzt an ihr vorbeigelaufen, wenn sie nicht gesprochen hätte.

Ich habe sie nicht erkannt, sie dagegen mich. Aber woran? Ich habe ja nicht gesprochen. Und an diesem Ort zu dieser Zeit mit mir gerechnet hat sie ja bestimmt auch nicht. Habe ich etwas Markantes an mir, anhand dessen ich zu erkennen bin? Wir wechseln nur ein paar Worte, aber in den nächsten Tagen bringt mich diese Begegnung immer mehr ins Grübeln.

Ich schaue gerne freitags die Fernsehkrimis im ZDF. Ich sehe "Derrick" mit Horst Tappert, "Der Alte" mit Siegfried Lowitz, "Ein Fall für Zwei" mit Günter Strack und Claus Theo Gärtner und natürlich "Aktenzeichen XY" mit Eduard Zimmermann. Ich weiß, daß bei "Aktenzeichen XY" die spektakulären Fälle herausgepickt werden, und daß die Fernsehkrimis erfundene Handlungen dargestellt werden. Und so akzeptiere ich es als Übertreibung des Fernsehens, daß Überfälle grundsätzlich immer bei Gedächtniskünstlern stattfinden, also bei Menschen, die anschließend auf der Polizeiwache das genaue Gesicht des Täters beschreiben können. Da wird dann ein Phantombild angefertigt, bei dem aus hunderten von möglichen Nasenformen, Mundwinkeln und Augenpartien die richtigen Elemente ausgewählt werden. Das habe ich bisher akzeptiert als fiktive Realität des Fernsehens, als besondere Dramaturgie.

Und nun beschleicht mich das Gefühl, daß das, was ich immer als Fiktion des Mediums Fernsehkrimi wahrgenommen habe, tatsächlich Realität sein könnte. Ist es womöglich für die meisten Menschen Normalität, Gesichter detailiert beschreiben und wiedererkennen zu können? Sind vielleicht auch die Fahndungsplakate, die in zahlreichen Postämtern aushängen, und auf denen mit Hilfe von Gesichtsbildern die Terroristen der Gruppe "Rote-Armee-Fraktion" (RAF) gesucht werden, nicht gezielt an mit besonderen Fähigkeiten der Wahrnehmung ausgestattete Menschen gerichtet, sondern ganz allgemein an die breite Öffentlichkeit?

Mir geht durch den Kopf, daß vereinzelt Lehrer oder Mitschüler zu mir gesagt haben "Daniel, hast Du mich den gar nicht erkannt? Du bist mir am Wochenende mit dem Fahrrad fast über die Füße gefahren?". Ich habe dann immer gedacht, daß sie mich verwechselt haben. Denn wenn ich mit dem Fahrrad jemandem fast über die Füße gefahren wäre, dann müsste ich denjenigen ja mit meinem Lenker (tatsächlich oder beinahe) berührt haben. Daran hätte ich mich bestimmt erinnert, selbst dann, wenn ich die konkrete Person nicht erkannt hätte. Und ich habe mir zum Fahrradfahren meist Strecken ausgesucht, wo keine Radwege waren, wo ich also nicht auf dem Bürgersteig fahren musste und von allen übersehen wurde, sondern auf der Straße zwischen den Kraftfahrzeugen mitschwimmen durfte, wo ich von den anderen Verkehrsteilnehmern gesehen wurde und deshalb sicher und schnell fahren konnte. Aber nie hat mir jemand davon berichtet, daß er direkt an der Bordsteinkante gestanden hätte und fast von meinem Lenker gestreift worden wäre, sondern immer nur davon, daß ich fast über die Füße gefahren wäre. Die betreffenden Menschen müssen also bereits auf der Fahrbahn gestanden haben! Und daran erinnere ich mich nicht?

Inzwischen denke ich: Vielleicht waren die betreffenden Personen tatsächlich irgendwo entlang meiner Strecke anwesend? Und vielleicht haben sie mein unerwartetes Auftauchen tatsächlich so empfunden, als wäre ich ihnen über die Füße gefahren. Ist die Angst um die eigenen Füße also unbegründet, ist sie lediglich eine Wahrnehmungsstörung, eine seltsame Verknüpfung der Neuronen im Gehirn, die beim Erkennen von Personen zu Phantomschmerzen in den Füßen führt? Dann sollte ich ja eher froh darüber sein, wenn ich andere Menschen nicht so einfach erkenne, ich bekomme schließlich deshalb auch keine Angstschübe in Bezug auf meine Füße. Aber schön wäre es dann doch, wenn ich wenigstens neutral den Hinweis spüren würde, daß irgendwo jemand bekanntes in meinem Sichtfeld ist.

Vielleicht erkennen andere Menschen die Personen um sie herum einfach so nebenbei? Vielleicht muß ich besser hingucken?

Mir fällt ein, daß meine Mutter mich früher oft ermahnt hat, daß ich anderen Menschen ins Gesicht sehen soll, wenn ich mich mit ihnen unterhalte. Man schaut einander in die Augen, wenn man miteinander spricht. Das klappt nur, wenn ich mich darauf konzentriere, das zu tun. Wenn das Gespräch an Tiefe gewinnt, wenn ich nachdenken
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und überlegen muß, dann funktioniert das nicht.

Wenn ich durch die Stadt schlendere, werde ich manchmal nach dem Weg gefragt. Passanten fragen nach einer bestimmten Adresse. Autofahrer halte an, kurbeln die Seitenscheibe herunter und fragen nach dem Weg. Ja, es ist 1988, der Kraftfahrzeugverkehr hat stark zugenommen in den vergangenen Jahrzehnten, es werden Umgehungsstraßen geplant, neue Verkehrsführungen ersonnen, Tiefgaragen in der Innenstadt gebaut. Ich kenne viele Straßennahmen in Dortmund, aber ich habe nicht immer meinen Stadtplan dabei. Ich muß überlegen und nachdenken, kann aber meist helfen. Und nachher frage ich mich jedes Mal: Habe ich den Menschen überhaupt angesehen? Kann ich mich an irgendetwas von seinem Aussehen erinnern? Nein, ich kann es nicht. Ich helfe gerne, es macht mir Spaß. Es gefällt mir, wenn ich anderen mit meinem Wissen über das Straßennetz der Stadt helfen kann. Aber offensichtlich schaue ich die Menschen nicht an. Und ich schaffe es nicht, das zu ändern. Es ist wie verhext.

Oder schaue ich die Menschen doch an, aber es bleibt in meinem Gedächtnis nicht haften, weil meine Gedanken sich auf das Wegenetz und die Straßennamen konzentrieren? Wie kann ich herausfinden, ob es so ist? Ich habe keine Ahnung. Aber es hülfe mir auch nicht weiter. Eine Erkenntnis, wie ich mir Gesichter besser merken kann, ist mit beiden Varianten nicht verbunden.

Eigentlich ist es ja egal. Wenn mich jemand erkennt und möchte, daß ich ihn bemerke, dann soll er eben etwas sagen. Und wenn nicht, dann eben nicht. Es ist ja keine Verabredung, die ich in dem Moment nicht einhalten würde. Sondern es ist eine zufällige Begegnung, die dann quasi nicht stattgefunden hat. Es ist also völlig belanglos.

Während des Studiums passiert es eher selten, daß Menschen mich darauf ensprechen, mich irgendwo gesehen zu haben. Eher passiert es mir, daß mir Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln bekannt vorkommen, ich sie aber nicht identifizieren kann. Manchmal fällt mir einige Tage später ein, woran mich jemand erinnert hat. Manchmal sind es Kinder, in denen ich Mitschüler aus meiner Grundschulzeit wiederzuerkennen glaube. Meistens fällt mir erst später ein, wenn ich zu erkennen geglaubt habe, und daß dies gar nicht stimmen kann. Ein Kommilitone von mir sitzt im Rollstuhl, sein Doppelgänger in der U-Bahn dagegen nicht. Ob die Menschen es merken, wenn ich sie ansehe und dann darüber grübele, ob ich sie kenne?

Episode Zwei: 20 Jahre später

Es ist 2008. Das Unternehmen, in dem ich angestellt bin, wächst. Früher haben wir uns einen Büroflur mit einem anderen Unternehmen geteilt, jetzt belegen wir zwei Etagen. Es ist Mittag, ich hole meine Kollegen aus dem Erdgeschoß ab, um mit ihnen in die Mittagspause zu gehen. Wir kommen vorbei an unserem Besprechungsraum. In diesem Moment geht die Tür auf und es kommt ein junger Mann heraus. Er schaut mich an mit durchdringendem stechendem Blick, aber er sagt nichts. Sollte ich mir etwas dabei denken? Ich weiß nicht so recht.

Mit meinen Kollegen verlasse ich das Gebäude, wir gehen zu einem Bäcker in der Nähe. Meine Kollegen fragen mich "Sag mal, Daniel, wer war das gerade? Kanntest Du den? Der hat Dich so komisch angeguckt". "Das ist mir auch aufgefallen", sage ich, "aber woher sollte ich den kennen? Das war wahrscheinlich ein Bewerber nach einem Vorstellungsgespräch, wir haben ja gerade wieder Stellen ausgeschrieben. Woher sollte ich den Mann denn kennen?".

Es war tatsächlich ein Bewerber, und er wird eingestellt. An einem seiner ersten Arbeitstage kommt er zu mir und sagt "Ja, Daniel, ich wollte Dich damals nicht von Deiner Mittagspause abhalten. Und ich weiß ja, daß Deine Gesichtserkennung nicht funktioniert, seit wir uns von ein paar Jahren im Hauptbahnhof begegnet sind". Oh ja, die Begegnung im Hauptbahnhof! Daran erinnere ich mich! Da stand ich völlig ratlos, weil ich selbst die Stimme nicht zuordnen konnte. Dabei haben wir zusammen an der Universität Dortmund Informatik studiert. Wir waren politisch aktiv und saßen zusammen im AStA und im Studierendenparlament, der gewählten Vertretung der Studentenschaft. Viele Abende haben wir diskutiert, haben uns amüsiert, gelacht und gealbert. Es war eine schöne Zeit, und wir haben uns gut verstanden. Und doch: Er hat nichts Markantes an sich, woran ich ihn wiedererkennen könnte, noch nicht einmal seine Stimme. Wie soll ich ihn erkennen, wenn er mir an einer Stelle über den Weg läuft, wo ich nicht mit ihm rechne?

Wir verstehen uns weiterhin gut, die Zusammenarbeit klappt, wir unterhalten uns über alte Zeiten, und manchmal machen wir Scherze über meine Fähigkeit der Gesichtserkennung.

Manche Menschen erkenne ich auf Anhieb, und kann mir das ebenfalls nicht erklären. Den Installateur, der einmal im Jahr die Gastherme in meiner Wohnung wartet, grüße ich freundlich, als er im Baumarkt plötzlich vor mir steht. Und auch den Kollegen, der mir kurz danach zwischen Schrauben und Dübeln über den Weg läuft, nenne ich sofort beim Namen. Von denen, die ich nicht erkenne, bekomme ich natürlich nichts mit. Manchmal erzählt mir jemand, mich gesehen zu haben, dann will ich immer gerne wissen, wo und wann das genau war, und was ich in dem Moment gemacht habe. Meistens bekomme ich darauf sehr ausweichende Antworten. Ich habe den Eindruck, daß meine Fragen nicht ernstgenommen werden.

Im Internet lese ich über Gesichtsblindheit, sogenannte Prosopagnosie. Ob das auf mich zutrifft? Ob ich mich mal diagnostizieren lassen sollte? Aber was hätte ich davon? Es würde doch überhaupt nichts ändern.
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Ich glaube nicht, daß ich ein Etikett brauche, einen Begriff, der mich womöglich auch noch pathologisiert. Ich bin ich, das ist Etikett genug! Ich, der Daniel, ich bin meine eigene Schublade. Und es sollen doch erst mal diejenigen Menschen, die andere leicht wiedererkennen, mir erklären, wie sie das machen. Vielleicht ist es ja auch viel besser so, daß ich nicht zu diesen seltsamen Menschen gehöre, bei denen die Wahrnehmung von Personen mit einer Angst um die Unversehrtheit der Füße verknüpft ist.

Ich gehe gerne durch die Straßen und mache Photos von meiner Umgebung, um sie festzuhalten. Ich habe das schon früher in den 1980ern gemacht, als ich noch Schüler war, aber damals war das sehr teuer. Es mussten Filme zu je 36 Aufnahmen gekauft werden, und nach dem Photographieren mussten sie in einem Labor entwickelt werden. Er erinnere mich daran, daß ich einem Schulfreund mal gesagt habe, ich würde gerne einen Mechanismus haben, der einfach alles aufnimmt, was ich mit den Augen sehe, so daß ich es dann irgendwann später noch einmal betrachten kann, daß ich z.B. bestimmte Straßenzüge in 10 oder 20 Jahren noch einmal entlanglaufen kann. Er sagte darauf: "Ja, Daniel, Du hättest also gerne ein Diskettenlaufwerk im Bauch, dann würdest Du abends die Diskette entnehmen, und darauf wäre dann ein vollständiger Film des ganzen Tages". Ja, das waren die 80er: Eine Diskette, die hätte man dann irgendwie mit dem Commodore 64 abspielen müssen. Aber der Gedankengang war durchaus grundsätzlich richtig: Keine separate Kamera, statt dessen ein Apparat, der direkt das gesehene Bild aus dem Gehirn entnimmt und abspeichert.

Inzwischen denkt man nicht mehr an Disketten, es gibt Digitalkameras und Speicherkarten mit der Kapazität von mehreren Gigabyte. Aber ich muß immer noch eine Kamera in der Hand halten, mich irgendwo positionieren und auf den Auslöser drücken. Und immer wieder werde ich von Passanten in recht aggressivem Tonfall angesprochen und zurechtgewiesen, ich dürfe in der Öffentlichkeit nicht photographieren. Das war früher nicht so, da haben mich Menschen neugierig gefragt "Sind sie von der Presse?", sich teilweise sogar explizit ins Bild gedrängt, wenn ich einen Photoapparat zur Hand genommen habe.

Aber jetzt bauen sie sich bedrohlich vor mir auf, verlangen meine Bilder zu sehen und zu löschen. Meistens sind das Menschen, die ich vorher gar nicht bemerkt habe, die optisch irgendwo unauffällig zwischen parkenden Fahrzeugen und Straßenmöbeln verschwanden. Es sind Menschen, die gar nichts markantes an sich haben, die ich bei einer zweiten Begegnung nicht wiedererkennen würde. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, was diese Menschen antreibt.

Es sind tatsächlich meistens Menschen, die ich überhaupt nicht wahrgenommen habe, als ich auf den Auslöser gedrückt habe. Sie gehen unter im Straßenbild, sind bloßes Beiwerk neben Schildern, Straßenmöbeln und parkenden Kraftfahrzeugen. Glauben diese Menschen tatsächlich, ich würde sie gezielt ablichten und zur Schau stellen? Glauben diese Menschen, sie würden irgendwo in negativem Kontext wiedererkannt? Wenn ich nicht gerade mein Augenmerk speziell auf sie richte, dann sind Menschen für mich eine anonymen graue Masse. Sie bevölkern diese Welt. Sie sind eben einfach da, ob ich will oder nicht.

Ein Muskelpaket, das plötzlich vor mir steht, fordert in harschem Ton die Herausgabe meiner Kamera, zum Glück bin ich in diesem Moment in Begleitung. Der Mann greift zum Handy und ruft den Notruf der Polizei an, er fordert sie auf, sofort herzukommen und sein Recht durchzusetzen. Ich kann nicht hören, was der Beamte am anderen Ende der Leitung antwortet, aber der Mann legt schließlich wieder auf und geht laut fluchend weg.

Interessanterweise erlebe ich solche Situationen nicht auf den Bahnhöfen der Deutschen Bahn und in Eisenbahnzügen. Trainspotting scheint gesellschaftlich akzeptiert zu sein, Street- und Buildingspotting dagegen nicht. Daß Reisende ihre Verkehrsmittel im Bild festhalten, ist offensichtlich akzeptiert, auch wenn dabei immer wieder ganz viele Personen im Bild sind. Daß aber jemand im öffentlichen Straßenraum Bilder macht, weckt offenbar großen Argwohn. Dabei mache ich doch nur das, was ich vor 30 Jahren als Teenager gemacht habe, nur jetzt aufgrund der Digitaltechnik wesentlich preiswerter und deshalb häufiger. In der Vielzahl der Photos, die ich aufnehme, gehen einzelne Personen, die zufällig irgendwo herumstehen, in der Masse unter. Bis ich die Bilder eines Tages sichte, können Monate oder Jahre vergehen. Und was ich dann irgendwann veröffentliche, ist ohnehin nur ein
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winziger Bruchteil der erstellten Aufnahmen, und dann sind es auch nur die Ausschnitte, die ich für interessant halte.

Was gilt denn eigentlich für mich? Sollte ich mir Sorgen darum machen, daß ich irgendwie wiedererkannt werde, wo es für mich unvorteilhaft sein könnte?

Ich zeige mich im Internet, ich habe Profile auf verschiedene Platformen für Kontakte, ich lebe polyamorös, ich schreibe sehr persönlich über Bisexualität und Sadomasochismus (BDSM). Manchmal beschränke ich mich in meinem Profilbildern auf mein Gesicht, häufig zeige ich mich aber vollständig. Kann man mich aufgrund von Photos wiedererkennen, wenn man mich noch gar nicht kennt? Es sind ja nur Photos, da ist kein Bewegungsablauf drin, keine Stimme und kein Geruch. Bisher hat mich jedenfalls noch nie ein Fremder auf der Straße darauf angesprochen, daß er mein Bild schon mal irgendwo gesehen hat. Ich schaue mir meine Bilder kritisch an, besonders die Gesichtsbilder. Man sieht darauf, daß ich ein natürlicher Mensch bin, keine Piercings, keine Tätowierungen. Das sind die Eigenschaften, die ich von mir zeigen will. Aber könnte man mich aufgrund der Aufnahmen wiedererkennen? Könnte mich jemand wiedererkennen, der eine bessere Fähigkeit zur Gesichtserkennung besitzt als ich?

Ich selbst habe ja meist Schwierigkeiten, Menschen, die ich bereits kenne, wiederzuerkennen. Viele andere Menschen haben eine bessere Wiederkennungsrate, d.h. sie können Menschen, die sie kennen, leichter wiedererkennen. Diese Menschen erkennen mich also wieder, wenn ich ihnen schon einmal in der Realität vorgestellt wurde. Aber wären diese anderen Menschen zusätzlich auch in der Lage, mich nur anhand eines Photos zu erkennen, wenn sie mich in der Realität noch gar nicht kennengelernt haben? An welchen Merkmalen sollten sie mich erkennen? Ich schaue mir meine Gesichtsbilder intensiver an. Ich kann darin kein einziges Merkmal identifizieren, was nicht eine Vielzahl anderer Menschen auch hat. Ich komme schließlich zu der Meinung: Wenn mich jemand, der mich bisher noch nie in der Realität gesehen hat, aufgrund dieser Bilder in der Realität wiedererkennt, dann muß das eine ganz extreme Ausnahme sein.

Episode Drei: Wie geht es weiter?

Es ist 2014. Verschiedene Zeitungen berichten in ihren Online-Portalen von einem eklatanten Fall von Rassismus in der amerikanischen Filmindustrie: Der Radiomoderator Sam Rubin hat in einem Interview den Schauspieler Samuel L. Jackson auf seine Mitwirkung in einem Werbesport angesprochen, in dem tatsächlich der Schauspieler Laurence Fishburne zu sehen war. Der Interviewer hat also die beiden Personen miteinander verwechselt. Da beide Schauspieler schwarze Hautfarbe haben, wird diese Verwechselung von Samuel L. Jackson als Rassismus gewertet, und auch die deutsche Medien verbreiten dies so. Herr Jackson habe sich tapfer und mit offenen Worten gegen einen rassistischen Radiomoderator gewehrt, so lautet der einhellige Tenor der Meldungen.

Ich muß erst mal im Internet suchen, wer diesen beiden Schauspieler sind. Ich stelle fest, daß ich Laurence Fishburne aus der Matrix-Filmreihe kenne. Und er sieht tatsächlich genauso aus wie Samuel L. Jackson, lediglich ohne Bart. In Filem und erst recht in Werbesport werden Schauspieler geschminkt, speziell beleuchtet, unter besonderen Perspektiven gefilmt, und die Bilder werden auch noch digital nachbearbeitet. Wie soll man da diese beiden Schauspieler auseinanderhalten können? Werbespots haben im Allgemeinen keinen Abspann, in dem man die Namen der beteiligten Schauspieler nachlesen könnte. Muß ein Interviewer sich vorher informieren, wer in welcher Werbung mitgespielt hat? Vielleicht ist ihm die Frage ja ganz spontan in den Sinn gekommen? Oder darf er nur Fragen stellen, die er sich vorher genau überlegt hat? Sam Rubin entschuldigt sich öffentlich und bezeichnet die Verwechselung als amateurhaften Anfängerfehler. Es ärgert mich. Muß jemand, der Schauspieler interviewt, deren Auftritte in Werbespots exakt im Kopf haben?

Und es macht mir Angst. Ist es Rassismus, wenn ich Menschen miteinander verwechsele, die schwarze Hautfarbe haben? Die Hautfarbe ist doch ein ganz wesentliches sichtbares Körpermerkmal, genauso wie beispielsweise ein auffälliger Bart, ein Huckel auf der Nase oder buschige Augenbraunen. Sollte ich besser schweigen, wenn ich einen Menschen mit dunkler Hautfarbe als Bekannten wiederzuerkennen glaube, weil Verwechselungen nicht toleriert werden? Es ist eine diffuse Angst, die sich in mir
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bemerkbar macht. Es ist die Angst vor einer Situation, der ich nicht entkommen kann, in der es keine korrekte Reaktion für mich gibt. Es ist die Angst vor einer Situation, die ich vielleicht gar nicht richtig erkenne, wenn sie eintritt.

Doch ich lese noch mehr seltsame Dinge: Es wird berichtet über Prominante, die gerne mal spontan zuschlagen, wenn sie spontan photographiert werden. Kann es mir passieren, daß ich bei meinen Bahnreisen photographiere, und dann steht da am Fahrkartenautomat oder auf dem Bahnsteig irgendjemand, der aus Film und Fernsehen allgemein bekannt ist? Und ich bemerke das noch nicht einmal, ich habe keine blasse Ahnung, wer das ist?

Ich lese im Internet harsche Artikel über sogenannte Leser-Reporter, die bei allen interessanten oder uninteressanten Ereignissen in Scharen auftauchen und Bilder anfertigen. Angeblich soll es sich bei Menschen, die photographieren, um eine regelrechte Plage handeln.

Mittlerweile sind auch Filmkameras mit guter Auflösung erschwinglich, Wintersporter tragen Helmkameras, aber Filmaufnahmen vom Verkehrsgeschehen werden laut Presseberichten überwiegend als Überwachungsmaßnahme und damit als illegal eingestuft. Ich soll nicht filmen dürfen, wohin mich eine Wanderung führt, wie ich mit dem Fahrrad durch die Stadt fahren (und welche Sehenswürdigkeiten ich dabei passiere), wie mich die Eisenbahn quer durch Deutschland transportiert? Ich denke gerne zurück an den Showmaster Wim Thoelke, der in den 1980er-Jahren in seiner Fernsehsendung "Der große Preis" recht häufig Kamerafahrten durch bekannte deutsche Straßen (die dann erraten werden mussten) gezeigt hat. Sind diese Filmaufnahmen illegal gewesen? Wären solche Filmaufnahmen heute illegal?

Nun haben wir endlich die Technik, damit jeder das machen kann, was früher Fernsehsendern vorbehalten war. Mit ausreichend Speicherkapazität und Akkulaufzeit können wir quer durch die Republik fahren und touristisch interessante Routen, beeindruckende Landschaften, Bauwerke und Straßenschluchten filmen, kommentieren und anderen Menschen zeigen. Und natürlich werden dabei in den Aufnahmen auch andere Fahrzeuge sichtbar sein, Menschen in Gruppen oder als Einzelpersonen als Beiwerk im Bild stehen, so wie es bei Photo- und Filmaufnahmen schon immer war, und wie es das Kunsturhebergesetz seit mittlerweile über 100 Jahren anerkennt.

Interessant ist auch die technische Entwicklung von Geräten, die in Echtzeit eine Gesichtserkennung durchführen. Der Internet-Konzern Google hat die Gesichtserkennung für die eingebaute Kamera seiner Brille "Google Glas" erst einmal abgeschaltet. Dabei wäre gerade das eine interessante Anwendung für mich. Es würde sich niemand mehr beschweren, daß ich fast über seine Füße gefahren wäre und ihn dabei nicht erkannt hat. Sondern die Brille würde mich dezent darauf aufmerksam machen, daß eine Person in mein Blickfeld getreten ist, die ich kenne. Dann könnte ich explizit darauf achten, nicht mit den Füßen in Berührung zu kommen. Vielleicht sollte ich mich doch als gesichtsblind diagnostizieren lassen? Dann könnte ich mit der Krankenkasse über eine Kamerabrille mit Gesichtserkennung diskutieren. Ich würde sie dann ganz offiziell wie eine Art Prothese verordnet bekommen, und niemand dürfte etwas dagegen sagen, daß ich sie den ganzen Tag trage und eingeschaltet habe.



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